Zwischen Gänsehaut und Geduld
Immer wieder stoße ich auf Diskussionen, wie lang eine gute Rede bei einer Hochzeit oder Trauerfeier sein darf. Manchmal wird sogar behauptet, eine Stunde sei das Mindestmaß für die Dauer einer Zeremonie – sonst sei es nicht emotional genug.
Ich sehe das anders. Und ich möchte erklären, warum.
Mehr Worte = mehr Wirkung?
Ich habe kürzlich gehört, dass die Ansicht bestehe, eine gute Trauung sei nie kürzer als eine Stunde. Ich lese von Reden mit über 4000 Worten, und anderswo habe eine freie Trauung fast 2 Stunden gedauert.
So schön die Worte auch sein mögen, so viel Herzblut und Arbeit in diesen Vorbereitungen steckt – es gibt ein Übermaß, das es für Zuhörende unerträglich macht.
Deshalb lohnt es sich, sich zu fragen, wie lange die Dauer einer Zeremonie sein sollte.
Was sagt die Wissenschaft?
Wenn es heißt, in der Kürze liege die Würze, dann ist das mehr als nur ein Spruch.
Es ist empirisch belegt, dass die Aufmerksamkeitsspanne nach 15 Minuten bei Zuhörenden deutlich nachlässt.
Diesen Anspruch sollten wir auch an eine gute Rede in einer Zeremonie haben. Sie sollte Struktur haben, einen roten Faden, sie sollte in die Tiefe führen und in die Weite, und nicht unbedingt in die Länge.
Eine Rede am Stück sollte deshalb nicht mehr 15-20 Minuten betragen. Und sie sollte eingebettet sein in einen zeremoniellen Rahmen, der Raum zum Nachwirken und Atmen lässt.
Damit ist die Aufmerksamkeitsspanne von uns Menschen ausgereizt, und man hätte vielleicht auch gerne noch mehr…
Doch das ist der perfekte Moment, um aufzuhören. Eine kürzere Zeremonie kann all die Seelentiefe haben, ohne dass das Geringste fehlt.
Weniger ist oft mehr – Tiefe entsteht durch Klarheit
Ich weiß, wie schwer es vielen Kolleginnen und Kollegen fällt, sich kürzer zu fassen, vor allem aus Sorge, etwas Wesentliches zu vergessen.
Doch wenn eine Rede als Manifest für die Essenz eines Paares oder eines Menschen verstanden wird – getragen durch Werte und Dynamiken, durch innere Beweggründe, durch Persönlichkeit und Haltung – dann ist sie inhaltlich tief, ohne auf jedes einzelne Detail eingehen zu müssen.
Denn Form ist nur der Ausdruck von Inhalt, nicht seine Auflistung.
Die schönsten Augenblicke in Deinem Leben, das waren doch auch oft nur Minuten oder gar Sekunden? Ein Moment, der sich zeitlos anfühlte.
Das besondere eines Moments lässt sich nicht ins Unendliche ausdehnen. Irgendwann löst er sich auf, um dann als Schatz in unseren Erinnerungen weiterleben zu dürfen.
Eine gute Reden kann so viel mehr als schöne Worte, sie kann wirklich innerlich bewegen. Durch ihre Essenz und die Kraft ihrer Worte.
Dann öffnet sie Räume, lässt Zeit zum Atmen und klingt nach.
Und genau darin liegt ihre Kraft – nicht in der Dauer einer Zeremonie.